Kapitelüberschriften
Uwe Timm: Lob der Idylle
Schön ist es
am Abend an einem See der holsteinischen Schweiz
- vielleicht unter herbstfarbenen Buchen -
den Sonnenuntergang zu genießen
wissend
daß der Milchpfennig auch nach der Bundestagswahl gezahlt wird
während auf den Feldern die Knechte
die Ernte einfahren
schöner
am Morgen auf der Terasse einer Villa
- zum Beispiel auf dem Falkensteiner Ufer -
in aller Ruhe die vier Jahreszeiten von Vivaldi
mit einem Bourbon-Whisky hinunterzuspülen
wissend
daß die Tariflöhne nicht gekündigt werden
während in den Maschinenhallen die Arbeiter
mit geübten gleichmäßigen Griffen die Gewinde
fräsen
schöner noch
an einem Novembernachmittag vor der Küste Teneriffas
beim Surfing den Blick auf die schneebedeckte Kuppe
des Pico de Teide zu richten
wissend
daß die Aktien steigen
während die Kumpel vor Ort mit kraftvollen
Stößen
den Kohlenhobel an das Flöz schieben
am schönsten
in der Nacht auf einer Safari in Südafrika
das gleichmäßige Äsen
eines weißen Nashorns zu beobachten
wissend
daß der Boy den afrikanischen Hummer im Wasser siedet
während die südafrikanischen
Streitkräfte mit dem CIA
für Ruhe und Ordnung im Lande sorgen
Beunruhigend nur der Gedanke
daß es Leute gibt
die keinen Sinn für Schönheit haben
Sergej Jessenin: In meiner Heimat
In meiner Heimat leb ich nicht mehr
gern,
Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen.
Ich laß die Kate Kate sein, bin fern,
ich streun, ein Dieb, umher im Heimatlosen.
Tag, wie dein Licht
sich lockt, so will ich gehn,
im Irgendwo will ich zur Ruh mich setzen.
Was mir bevorsteht, Freund, ich kanns schon sehn:
ich seh am Stiefelschaft dich's Messer wetzen.
Die gelbe Straße:
vor mir läuft sie hin,
der Frühling, er läuft mit, das Wiesenblond, die Helle -
den Namen grub ich tief in meinen Sinn,
und die ihn trägt, sie jagt mich von der Schwelle.
Ich weiß, mich
führt's zurück zu meines Vaters Haus -
mein ganzer Trost: daß fremde Herzen hüpfen...
Ein grüner Abend kommt, ich zieh die Jacke aus,
am Ärmel mich ans Fensterkreuz zu knüpfen.
Die Weiden hängen
grau, das Zaungeflecht
steht schief - sie müssen Kummer haben.
Mich Ungewaschnen bettet man zurecht,
die Meute bellt - sie haben mich begraben.
Und oben schwimmt
der Mond, er schwimmt und schwebt,
und läßt, wo Seen sind, seine Ruder fallen,
Und Rußland lebt, wie's immer schon gelebt:
am Zaun, da tanzt es, und die Tränen rollen.